Donnerstag, 17. Mai 2018

Gestrandet


Dienstag, 15. Mai 2018              Schwäbisch Gmünd – Welden    95 KM      Gesamt: 260 KM

Nach einem Frühstück in einem Trucker-Stop bin ich um kurz vor neun wieder auf der Piste. Es ist leicht bewölkt und fühlt sich kalt an. Ich bin eingemummt, mit langer Hose, langem Radlershirt, Regenjacke. Allerdings kommt nach wenigen Kilometern die Sonne zum Vorschein und nach der ersten Steigung, fahre ich mit kurzen Hosen, Kurzarm-Shirt und leichter Windjacke weiter.
Meine Route führt über die Ostalb nach Lauingen an der Donau, ca. 70 Kilometer. Es ist herrlich hier, ruhig, ein leichter Wind weht, Kühe und Schafe am Wegesrand, ein kleiner Bach schlängelt sich am Radweg entlang. Das sind diese Momente, weshalb ich das Radeln liebe, ich bin in Bewegung, genieße die Natur mit allen Sinnen, Glücksgefühle durchfluten meinen Körper und meinen Geist. Leider wird diese schöne Stimmung immer wieder unterbrochen, weil gebaut wird. Was genau weiß ich nicht, ich vermute die Baustelle Stuttgart 21 zieht sich durch ganz Württemberg.  Ständig muss ich vom ausgeschilderten Radweg herunter und eine Umleitung fahren. Beim Autofahren denkt man dann in Minuten oder Stunden, schon wieder Zeit verloren. Beim Radeln denkt man eher an zusätzliche Strecke und Höhenmeter. Aber das ist mir heute egal, ich habe kein Zimmer gebucht, wenn ich keine Lust mehr habe oder nicht mehr kann, höre ich einfach auf und radle morgen weiter.
Das Wetter bleibt schön, damit habe ich heute gar nicht gerechnet, die Wetterprognose verhieß anderes, umso glücklicher bin ich darüber. Ich durchfahre viele kleine, schnuckelige Ortschaften, welche von der Landwirtschaft geprägt sind und heute ist wohl Gülle-Dünge-Tag. Luftanhalten ist beim Radeln allerdings keine gute Option, also rein in die Nase mit der frischen Landluft. Essenstechnisch komme ich mit einem ausgiebigen Frühstück, irgendwo ein Fleischkäsebrötchen, zwischendurch Studentenfutter und nachmittags Kaffee, eine Brezel, eine extra Portion Magnesium und ein Energyriegel gut zu recht. Abends freue ich mich dann auf ein schönes warmes Essen im Restaurant.
Es ist schon 16 Uhr geworden und ich bin ca. 10 Kilometer vor meinem Zielpunkt Lauingen. Ich freue mich, dass bald Feierabend ist, da zwischendurch schon ein paar heftige Steigungen zu bewältigen waren und ich schon etwas müde bin. In einer Bäckerei genehmige ich mir noch einen Kaffee um dann die restlichen Kilometer langsam und entspannt genießen zu können. Die Sonne scheint, ein schöner Tag neigt sich dem Ende zu. Als ich jedoch wieder auf das Rad steige, sehe ich das Unheil kommen. Dunkle Wolken ziehen auf, die nicht nur Regen in sich tragen, Gewitterwolken sind das. Und prompt setzen Böen ein, um die Dramaturgie nicht nur optisch wirken zu lassen.

Ich bin nur noch 10 Kilometer von meinem Tagesziel entfernt und möchte jetzt auch dort ankommen, also überlege ich nicht lange, drehe mich nochmals zur Sonne um und fahre der Gewitterfront entgegen. Es steigt leicht und ich fahre kraftvoll und schnell in einem hohen Gang, aber ich halte das Tempo nicht lange durch, zu viele Meter stecken schon in den Beinen. Außerdem lassen mich die heftigen Böen immer wieder schwer schwanken, ich habe Mühe das Rad in der Spur zu halten. Noch 5 Kilometer, von der Sonne ist nun gar nichts mehr zu sehen, es ist bedrohlich dunkel, über mir, ringsherum.

Ein Tropfen landet auf meiner Hand, das Zeichen für den Sprinteinsatz zum Ziel. Ich schalte hoch, gehe aus dem Sattel, und fahre mit 60 Sachen die restlichen Meter, die ersten Häuser schon im Blick. Ok gefühlt 60, wahrscheinlich nur 20, aber es ist mir verdammt schnell vorgekommen. Plötzlich durchschlägt ein Blitz den Himmel bis zum Boden, begleitet von einem ohrenbetäubenden Donnerhall. Ich erschrecke dermaßen, dass ich unbewusst eine Vollbremsung hinlege, das Hinterrad blockiert und bricht seitlich aus. Intuitiv und aus Erfahrung mache ich wohl alles richtig, denn ich bringe das Rad sicher zum Stehen. Ich zittere, spüre meinen Puls, mein Herz rast. Thor hat seinen Hammer geschwungen und mich begrüßt, oder war es eine Warnung?

Wie in Trance fahre ich in Lauingen ein, setze mich an einer überdachten Bushaltestelle und nehme den Platschregen, der nun einsetzt kaum war. Nach einigen Minuten bin ich wieder bei mir und meine Stimmung wandelt sich von Angst in ein heldenhaftes Hochgefühl. Ich stehe auf, trete auf den Marktplatz, reise mir das Shirt vom Leib, schlage mit beiden Fäusten auf meine nackte Brust und rufe laut und mit tiefer Stimme in den Regen: „Yeaahhh, ICH HABE FEUER GEMACHT“. Ob sich das nur in meinem Kopf so abgespielt hat, kann ich jetzt im Nachhinein nicht mehr mit Sicherheit sagen, zumindest gefühlt habe ich es so.
Aber halt, dranbleiben, der Bericht ist noch nicht zu Ende, ich habe ja noch keine Unterkunft.
Gegenüber ist das Hotel Drei Mohren, schon beim Hineingehen merke ich, dass das nicht meine Preisklasse ist. Das ehrwürdige Gebäude im Jugendstil ist durchzogen mit einem eleganten Teppichboden. An der Decke der hohen Empfangshalle hängt ein kristallener Kronleuchter und verursacht ein diffuses Licht. Leise klassische Musik ertönt aus den nicht sichtbaren Lautsprechern. An der Rezeption erkundige ich mich nach einem freien Zimmer ohne nach dem Preis zu fragen, um zumindest den Eindruck zu erwecken, ich könne mir das leisten. Hier erfahre ich nun von der netten Dame, dass ich hier in Lauingen wahrscheinlich Pech haben werde, die Anfragen sind heute immens und alle Hotels sind ausgebucht. Trotzdem telefoniert sie mindestens 5 andere Herbergen an, jedoch wie erwartet erfolglos. Ich bedanke mich für ihren, wenn auch erfolglosen Einsatz. Wieder an der Bushaltestelle recherchiere ich selbst nochmal und frage bei mindestens 10 verschiedenen Hotels und Pensionen, alles ausgebucht. Enttäuscht entschließe ich mich weiterzufahren. Immerhin ist das Gewitter vorbei.
Mein nächstes Etappenziel ist Augsburg, ich lade die Routenführung aufs Handy und setze mich wieder aufs Rad. Lauingen liegt direkt am Donauradweg, ich bin jedoch froh, dass ich die Donau überquere und davon wegfahre, das gibt mir Hoffnung in der nächsten, nicht so stark frequentierten Ortschaft etwas zu finden. Es ist ca. 17 Uhr, das ist noch nicht zu spät. Der nächste Ort ist fast 10 Kilometer weg. Echt jetzt? 10 Kilometer? Ich habe keine Lust mehr, ein Powerriegel gibt mir wieder etwas Kraft und gute Laune, immerhin 5 Kilometer hält es an. Eigentlich müsste ich jetzt zu Abend essen, aber ich brauche erst eine Unterkunft. Die Kilometer ziehen sich, dass es hoch und runter geht trägt nicht zur besseren Stimmung bei. Am Ortseingang in Holzheim steht ein altes verfallenes Gebäude. Der Schriftzug „Gasthaus“ ist noch an der brüchigen Hauswand zu erkennen. Ich überlege mir ob ich nicht einbreche, vielleicht steht noch irgendwo ein altes gammeliges Bett, Komfortgedanken sind mittlerweile nebensächlich. Allerdings bin ich noch nicht genug Abenteurer und fahre weiter, 3 Kilometer später, nach erfolglosem Fragen ob es hier eine Möglichkeit gibt zum Übernachten, ärgere ich mich über die verpasste Chance. Weder in Ellerbach, Fultenbach oder Zusamzell sieht es besser aus. Nichtmal Tausend Einwohner haben diese Dörfer, wieso sollte hier auch eine Pension oder ein Hotel sein. Ich verliere die Hoffnung. Im Vorfeld habe ich mir Gedanken über eine solche Situation gemacht und mir ausgemalt, wie ich doch auch mal locker auf einer Bank in einer überdachten Bushaltestelle schlafen könnte. Abenteuer eben. Aber die Bushaltestellen sind hier nicht überdacht, ich fahr weiter.
Die nächste Ortschaft ist Welden, 6 Kilometer bis dahin, versehentlich tippe ich auf dem Handy auf das Höhenprofil. Ich werfe mir Magnesium und einen weiteren Energyriegel ein, wenigstens war ich hier nicht arglos und habe genügend Ration dabei. Der Berg ist gar nicht so steil, aber ich schiebe, weil ich weiß dass er sich zieht. Das erste Mal bisher, dass ich schiebe. Das Rad ist schwer, anstatt der Oberschenkel, schmerzen nun die Arme. Irgendwann, viel viel später, komme ich dann auch in Welden an, ein Zeitgefühl habe ich nicht mehr, aber es wird wohl bald dunkel. Eine Frau läuft schnellen Schrittes den Gehweg entlang, ich frage sie ohne Funken Hoffnung nach einem Gasthaus. "Ja kommen Sie mit, gleich um die Ecke, ist der Gasthof Hirsch, der hat Zimmer, da muss ich auch gerade hin", meinte Agnes. Ich hätte sie umarmen können und all die Leiden der letzten Kilometer sind vergessen. Wir unterhalten uns etwas, doch als wir dort ankommen schwant mir schon böses. Der ganze Hof steht voll mit Monteur-Autos. „ Das letzte Zimmer habe ich vor einer Stunde vergeben, hätten sie anrufen müssen“, verlautet der Hirsch-Wirt. Ich versuche mich gelassen zu geben „ja macht nichts, Pech gehabt, nach Augsburg ist es ja nicht mehr so weit, da finde ich bestimmt etwas" entgegne ich wenig überzeugend. Im Ort gibt es noch ein weiteres Gasthaus, aber nach einem Anruf des Wirtes, ist auch hier zu erfahren, dass nichts frei ist. Ich sehe mich nun tatsächlich weitere 25 Kilometer bis Augsburg fahren, wahrscheinlich sogar direkt bis München.

Aber ich habe die Rechnung ohne Agnes gemacht: "Wir finden schon was für dich und wenn du bei uns im Speicher schläfst. Musst eine halbe Stunde warten, ich habe hier eine Sitzung und dann schauen wir bei uns daheim weiter, mein Mann ist auch ein Radler." Ich nutze die Gelegenheit und verspeise einen leckeren Krustenbraten mit Knödel beim Hirschen und ziehe dann mit Agnes zu ihrem Häuschen. Ich bin etwas skeptisch, aber nachdem ich auch von Ihrem Mann Björn und Sohn Laurent freundlich begrüßt werde, legt sich meine Unsicherheit. Eine weitere halbe Stunde versuchen wir im ganzen Umkreis ein Zimmer zu bekommen, aber alles dicht, warum auch immer, das nächste Freie wäre tatsächlich in Augsburg. Und was ich anfänglich als Scherz empfand, werde ich ein weiteres Mal auf eine Matratze im ausgebauten Speicher eingeladen. Das ist das Allerschönste was ich heute zu hören bekomme, ich nehme dankend an, weil ich auch merke, dass Agnes und Björn keine Bedenken haben und es ihnen keine großen Umstände bereitet, immerhin bin ich ein Fremder aus dem fernen Badnerland. Bei einem Bier wird es noch ein unterhaltsamer Abend bei der sehr sympathischen Familie, bevor ich dann müde, aber doch wieder glücklich, im Speicher auf der Matratze übernachten darf. Ich danke euch beiden nochmals für die Gastfreundschaft, ganz besonders Agnes, die mich nicht hat ziehen lassen.

Das ist nun erst der dritte Tag meiner Reise und ich habe schon so einiges erlebt, gefühlt und gesehen, nette Menschen kennengelernt, einen Halbgott aus Asgard und einen Engel aus Welden inklusive.

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